Lieber Georg,
 
Nachdem Roger Katwijk gesprochen hat, möchte auch ich gerne noch einige Worten an dich richten. Erstmal will ich mich bei dir bedanken für die gute Zusammenarbeit beim Schreiben des Textes für den Katalog. Du bist deshalb extra zu mir nach Rotterdam gekommen, wo wir in einer entspannenen Atmosphäre drei Stunden über deine Arbeiten, über Fotographie und viele verwandte Themen gesprochen haben. Später dann sagtest du mir, daß ich in diesem Moment wohl derjenige sei, der deine Arbeiten am besten kennt. Also wollen wir mal sehen ob das wirklich der Fall ist:
 
Die digitale Fotografie und die dafür entwickelten Computertechniken ermöglichen es Küttinger aus hunderten einzelner Aufnahmen neue Landschaften zusammenzustellen, Landschaften, die auf Multiperspektivität und räumlichen Überschneidungen basieren. Seine Fotoarbeiten kann man einteilen einerseits in Landschaften, die ausschliesslich durch die Natur geformt sind - wie seine beeindruckenden Bergbilder - und andererseits Landschaften, in denen der Einfluss menschlichen Handelns unmittelbar zu sehen ist.
 
Nehmen wir einige Beispiele:
Das Foto vom Aletsch, das hier in der Galerie zu sehen ist, basiert auf reiner Natur. Allerdings hat Georg der Landschaft in seinem Bild etwas geholfen; es in einer neuen Form wieder zusamengestellt. Somit stellt die Arbeit viele Alternativen und Perspektiven bereit. Manchem Betrachter geben diese Bilder berühmter Berge ein erhabenes und romantisches Gefühl. Um dieses Gefühl in Worten auszudrücken, habe ich nach einigen Überlegungen und Momenten des Zweifels das folgende Gedicht von Goethe in den Katalog mitaufgenommen:

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh'
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde
Warte nur, balde
Ruhest Du auch
 
 
Es gibt aber auch vollkommen andere Bilder, so wie Polders und Zeeland. Diese beiden Landschaften können nur ein Resultat von Eingriffen des Menschens sein. Polders sieht mit seinem strengen Raster aus, als ob der Fotograf bei der Komposition durch Mondrian beeinflust gewesen wäre. Zeeland gibt uns mehrere Assoziationen: es ist eine minimalistische Fotoarbeit, die uns an einen Barcode erinnern kann. Bei mir selbst ruft Zeeland auch musikalische Assoziationen an die Minimal Musik hervor, insbesondere an die weltberühmte Komposition Canto Ostinato des niederländischen Komponisten Simeon ten Holt: minimalistische Musik für vier Flügel, basierend auf Wiederholung und Tonalität. Stundenlang erklingt das gleiche Thema, das im Laufe der Komposition geringfügig variiert und dann in der Variation wiederum vom nächsten Flügel übernommen wird. Ten Holts Musikstück handelt von dem Weg der Unordnung zur Ordnung und widerspiegelt in seiner chaotischen musikalischen Struktur eine besondere Ordnung. So wie Canto Ostinato ist Zeeland ein positives, stimulierendes Kunstwerk mit Berührungspunkten zu den vielfältigen Rhythmen und Strukturen, die man auch in der Musik van Simeon Ten Holt findet.
 
Georg Küttinger tritt in seinen phänomenalen Fotowerken, die besonders viele Anknüpfungspunkte zur Malerei haben, der ursprünglichen Landschaft interpretierend entgegen. Er zeigt sie in all ihrer Weite, Größe und Unterschiedlichkeit, und betont die besonderen Strukturen, die ihr ihre bemerkenswerten Erscheinungsformen geben. Und nun habe ich hier für dich die Originalaufname von Canto Ostinato aus dem Jahr 1985.
 
Etienne Boileau©maart 2012